G.E. Lessing

Miss Sara Sampson

Theater Aachen / Mai 2003

mit Aylin Esener, Susanne Storck, Nina Weiß, Ulrich Haß, Markus Heinicke
Bühne und Kostüme: Bettina Bender
Lydia Bunk Theaterregie Miss Sara Sampson
Lydia Bunk Theaterregie Miss Sara Sampson
Lydia Bunk Theaterregie Miss Sara Sampson
Lydia Bunk Theaterregie Miss Sara Sampson
Lydia Bunk Theaterregie Miss Sara Sampson
Lydia Bunk Theaterregie Miss Sara Sampson
Lydia Bunk Theaterregie Miss Sara Sampson
Lydia Bunk Theaterregie Miss Sara Sampson
Lydia Bunk Theaterregie Miss Sara Sampson

Fotos: Frank Heller

IM CHAOS ZWISCHEN HASS UND LIEBE

Mit einer wilden, aggressiven Inszenierung hauchte Regisseurin Lydia Bunk dem Trauerspiel Miss Sara Sampson von G.E. Lessing neues Leben ein. Bunk hat das Stück aus dem 18. Jahrhundert in das Filmmilieu von heute verpflanzt: Einziger Spielort ist das Hotelzimmer von Mellefont (Markus Heinicke), ein Raum mit elektrischer Schiebetür und abgerundeten Ecken, einem tatsächlich mit Wasser gefüllten Swimming-Pool und einer Videoleinwand. Ein abgewetzter Ort, an dem das frisch verliebte Paar, Filmregisseur Mellefont und Schauspielerin Sara, auf dem Weg in die gemeinsame Zukunft von der Vergangenheit aufgehalten wird. (…) Hervorragend herausgearbeitet ist die Rolle des Mellefont, der dreimal eine deutliche Persönlichkeitsveränderung durchmacht. Heinicke setzt sie jedes Mal überzeugend mit schauspielerischer Glanzleistung um: Erst ist Mellefont der verführerische Dandy, der sich locker zum Frühstück eine Linie Koks druch die Nase zieht. Dann wandelt er sich in den von Marwood samt Tochter Arabella (Nina weiß) eindringlich Bedrängten, zwischen Verantwortung für seine alte Geliebte und Liebe zu seiner neuen Zerrissenen. Zum Schluß ist ihm angesichts der um ihn kämpfenden Frauen nur noch seine Freiheit wichtig. Am Ende also kein Freitod, wie die Vorlage es vorsieht. Auch Sara muß nicht sterben, der handfest ausgetragenen Kampf mit Marwood bleibt unentschieden.
Denn: Sie leidet zwar eindrücklich unter dem Streit mit dem Vater und macht viele Kompromisse, um Mellefont zu halten. Tatsächlich ist sie aber eine selbstsichere, moderne und emotionsstarke Frau, die sich nicht von der lebenserfahrenen Marwood einschüchtern lässt. (…) Esener und Storck bringen zwei intensive Bilder von Frauen auf die Bühne, die wissen was sie wollen. Wenn sie sich gegenseitig an den Haaren zerren, treten, schlagen und sich schließlich im Pool bis zur Erschöpfung martern, ist das der wilde Höhepunkt von ihrer Liebe und ihrem Haß. Diese ungeheure Gefühlsintensität lässt Mellefont schließlich fliehen und hinterlässt auf der Bühne ein Chaos. Eine sehr gelungene, moderne Inszenierung.

(Aachener Zeitung)

VERFÜHRT NUR VON DER VERFÜHRUNG

(…) Das Publikum war hingerissen von Lydia Bunks Inszenierung. Wenn zwei weibliche Katzen ihre Krallen zeigen, geht es meist um einen Mann. Und was tut der heutzutage? Er macht sich aus dem Staub, wenn es ihm zu ernst wird. (…) Also taucht er ab, verschanzt sich in einem billigen Hotel und hält sie hin. Das Abtauchen in den Strudel der Gefühle gelingt im wahrsten Sinne des Wortes, denn bestimmendes Element auf der Bühne (Bettina Bender) ist ein Swimming-Pool. Aus ihm tauchen die Figuren unvermittelt auf, um wie Sara und ihre Rivalin Marwood, entgültig darin zu ertrinken. Vorher tobt ein Kampf der Katzen über die Bühne, bei dem die „tugendhafte” Sara ebenso wenig nachgibt, wie die „verruchte” Marwood. Denn die Miss Sara Sampson in der Inszenierung von Lydia Bunk ist eine andere als Sara von 1775. Sara 2003 läßt sich verführen von einem Mann, der ihr die faszinierende Welt der High Society des Films zeigt. Sie will den Mann und diese schillernde Welt, die im Hintergrund über die leinwand läuft. So ist sie mal charmant wie Pretty Woman Julia Roberts, wenn ihr das Suschi von den Stäbchen hüpft („kleine schlüpfrige Scheißerchen”), mal im knappen Bikini lasziv wie Ursula Andress im James Bond Klassiker "Dr.No". Aylin Esener zeigt bezaubernd wie sich Sara quält, in der Hoffnung auf Erfüllung ihrer Träume. Doch Mellefont ist eine Art James Bond, immer auf der Suche nach dem nächsten Abenteuer. Verführerisch ist für ihn eigentlich nur die Verführung. (…) Susanne Storck als Marwood ist ganz Katze: kämpft mal sanft, dann wieder wild und wütend um ihr recht. Doch schon im Mienenspiel von Womanizer Markus Heinicke alias Mellefont ist abzulesen, wie er sich entscheiden wird – nämlich garnicht. Stattdessen wir der philosophisch, zitiert Nietzsche („Im Zustande des Hasses sind Frauen gefährlicher als Männer!”), während er eiskalt zusieht, wie Sara sich seinetwegen prügelt. (…) Dem Stück hat der Sprung in die Neuzeit sehr gut getan, statt verheulter Gutbürgerlichkeit gibt es ehrliche Tränen, wilde Kämpfe und wunderschöne Bilder.

(Aachener Nachrichten)

BÜHNE FREI FÜR DIE MEDIEN

Schauspiel und Oper umkreisen die vierte Dimension des Theaters (Piscator) immer öfter durch Einsatz Neuer Medien. In den jüngsten Inszenierungen von Vorreitern wie Frank Castorf, Claus Guth oder Stefan Herheim hat die herkömmliche Szenographie ausgedient. (…) Projizierte Bilder werden heute auf vielen Bühnen dramaturgisch eingesetzt. Die Medienkompetenten unter den Regisseuren gehen allerdings einige Schritte weiter. Frank Castorf von der Berliner Volksbühne ist einer von ihnen, wenn nicht der beste – zusammen mit seinem Bühnengestalter Bert Neumann. Bei seiner sechsstündigen Inszenierung des "Idioten" nach Dostojewski wird das Theater zum Videostudio. Aus den unterschiedlichsten Räumen auf der Bühne übertragen Kameras live das ansonsten häufig verborgene Geschehen auf Videoscreens. (…) Die frühere Castorf-Assistentin Lydia Bunk verlegt in den Aachener Kammerspielen in ihrer rasanten Inszenierung der Miss Sara Sampson das bürgerliche Trauerspiel ganz in die Filmszene: Mellefont wird zum Filmregisseur, seine Freundinnen Sara und Marwood zu Schauspielerinnen umgedeutet: Die Bühne mutiert so zum Dialogfenster mit Live-Video und aufgezeichneten TV – Sequenzen. (…)

(KUNST JAHR 2003)